Freitags vor der Kirche
Bel Para
Sie saß auf der Kirchenbank, ganz klein und hutzelig. Und zitterte. Und schaute die wunderschöne Kirche an, die großen Fenster, die Orgel, den Altar. Der große Kirchenraum atmete Ruhe und Frieden. Und sie erinnerte sich, wie die Kirche ausgesehen hatte, damals als nur noch ein Gerippe stand. Keine großen, bunten Fenster, kein Dach, nur ein paar Wände und Schutt.
‚ Wieso‘ dachte sie traurig ‚wieso, habe ich ihnen die Zukunft gestohlen?‘
Sie schaute blicklos vor sich hin. Gefangen in den Erinnerungen, die die harschen Worte irgendwie hervorgerufen hatten. Die Sirenen, die Großangriffe, stundenlang dröhnten die Flugzeuge und der Bombenhagel erschütterte die Stadt. Schläge über Schläge. Damals saß sie mit ihren Geschwistern im Bunkerkeller, mit der Mutter. Eine Ewigkeit. Im Dunkeln. Bis heute bekam sie Panik, wenn die Probesirenen losgingen, konnte kein Feuerwerk genießen, hatte Angst vor der Enge und Dunkelheit.
‚Wieso hatte sie die Zukunft gestohlen?‘ Sie hatte doch alles aufgebaut, überhaupt erst eine Zukunft geschaffen.
Als sie den Bunker nach der letzten Angriffswelle verließen, war keine Stadt mehr zu erkennen gewesen. Nur Trümmer, Schutt und Asche, Brandgeruch, Rauch und Tote. Die wenigen Menschen auf der Straße hatten allesamt einen wirren Blick. Erschüttert. Verständnislos. Heimatlos. Damals.
Es folgte eine harte Zeit. Untergekommen bei den Verwandten auf dem Land, die ‚die da, aus der Stadt‘ nicht hatten haben wollen. Eine entbehrungsreiche Zeit. Voller Hunger und mit kalten Nächten. Und Traurigkeit.
Dann begann der Wiederaufbau. Arbeit, Arbeit und nochmals Arbeit. Sie erinnerte sich, als alles sich langsam zum Besseren wandte. Wie wieder Lebensfreude aufkam. Und es gut und besser wurde. Rock‘n Roll. Italienurlaube. Das Gefühl von Sicherheit. Die eigene Familie. Die eigenen Kinder. Stabilität. Sie wollte nicht, dass ihre Kinder jemals so etwas Schreckliches erleben müssten. Und die Kindeskinder. Oder deren Kinder. ‚Wieso sollte sie deren Zukunft gestohlen haben?‘
Eine Träne rollte leise ihre Wange herab. Sie hatte doch nur das Beste gewollt. Sie sann zurück, was sie falsch gemacht haben könnte. Grübelte. Traurig. Ja klar, sie hatten nicht rechts und links geschaut, sondern nach vorne, froh darüber, wie sich alles entwickelte. Mit Wohlstand. Sicherheit. Die Bequemlichkeit, die Einfachheit, die Mühelosigkeit, die die neuen Techniken boten.
Wie sie da so saß, in der ruhigen, friedlichen Kirche, den traurigen Gedanken und Erlebnissen der Vergangenheit nachhängend - eine Endlosschleife im Kopf ‚warum habe ich die Zukunft gestohlen? Ich wollte doch nur, dass es meinen Kindern und Enkeln besser geht, als uns damals‘ - entspann sich draußen, vor der Kirche eine heftige Debatte. Ein Junge hatte mitbekommen, wie eine paar ihrer Gruppe die alte Frau grob angeredet hatten und sie bezichtigten, durch sorglosen Umgang mit den Ressourcen, die Zukunft zu stehlen. Er hat gesehen wie diese, darüber offensichtlich verletzt, zusammengezuckt war.
„So“ sagte er zu diesen, „ so wollen wir nicht miteinander umgehen. So wie wir zu unserer Umwelt gut sein wollen, so sollten wir dies auch zu unserem Umfeld sein.“
Und er ging hinein in die Kirche, setzte sich neben die alte Frau und begann mit ihr zu reden. Leise. Damit die Ruhe in der Kirche nicht gestört werden würde. Er lud sie ein, in das Draußen. Vor der Kirche hatte die Gruppe Kinder und Jugendlichen einen Stuhl organisiert und eine Decke, so dass die alte Frau mit den Jungen zusammensitzen und erzählen konnte. Von damals, wie es gewesen war, im Krieg, nach dem Krieg, beim Wiederaufbau. Von dem Hunger, der Kälte. Wie es war, als keiner etwas besessen hatte. Wie selten es Fleisch gegeben hatte, wenn dann höchstens mal den Sonntagsbraten. Wie selbstverständlich es gewesen war, mit dem Korb zu Fuß einkaufen zu gehen. Obst und Gemüse einzeln in der Papiertüte und wie sich dann alles eingeschlichen hatte, der Wohlstand und der Überfluss und das alles zu einfach gemacht wurde, so dass man kaum widerstehen konnte. Die Verführung durch die bunten Bilder und die Angebote. „Das Richtige zu tun, ist viel aufwändiger geworden, das das ‚Falsche‘, das Bequeme.“
„Und“ fuhr sie fort „man muss erst um die Dinge wissen, bevor man sie ändern kann!“
Denn sie berichtete auch von all dem, was bereits erreicht worden war. Zum Beispiel wie verschmutzt die Flüsse gewesen waren und wie sauber sie jetzt seien. Damals, als die Luft in den Städten so dick gewesen war, dass man kaum atmen konnte. Die Wäsche nie richtig weiß, die Himmel selten richtig blau. Wie gut - vergleichsweise - die Luft heute in den großen Städten sei. Die wilden oder auch beabsichtigten Müllkippen. Wie alles in der Landschaft lag, offen, oder in Schluchten oder in Wäldern und wie gut dies heute bereits organisiert sei. Sie erzählte von den autofreien Sonntagen. Und vielen anderen Dingen, die sich bis heute bereits erheblich verbessert hätten. Zwar nicht überall, aber immerhin. Und wie schwierig es sei, die Konsequenzen des Tuns zu erkennen, bevor sie einträten. „Erst hinterher sei man immer klüger“, meinte sie.
Und die Kinder erzählten von ihren Sorgen, der Klimaerwärmung weltweit, dem schmelzenden Polareis, den verheerenden Waldbränden, dem globalen Waldabbau der Ur- und Taigawälder. Von den verschmutzen Meeren, mit riesigen Flächen voller Plastik in diesen. Von den Fischen die gestorben sind, mit Mägen voller Plastik. Und von vielem mehr. Und von noch mehr.
So tauschten sie sich aus, Jung und Alt, und bekamen ein Verständnis füreinander. Zusammen, nicht jeder für sich, und auch nicht gegeneinander, ja so würde es besser gehen.
Die alte Frau, kaum noch laufen könnend, mit magerer Rente ohnehin nicht an der Verschwendung teilhabend, sah nicht viele Möglichkeiten für sich. Aber sie wollte teilhaben und so setzte sie sich fortan jeden Freitagnachmittag mit den Kindern vor die Kirche, um für eine lebenswerte Zukunft zu plädieren.